“Erreichbar, nah und unverloren blieb inmitten der Verluste dies eine: die Sprache. Aber sie musste nun hindurchgehen durch ihre eigenen Antwort-losigkeiten, hindurchgehen durch furchtbares Verstummen, hindurch-gehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede. Sie ging hindurch und gab keine Worte her für das, was geschah. Aber sie ging durch dieses Geschehen.” —Paul Celan
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“Es [geht] nicht um Schuld, sondern nur darum, dass man einsehen [muss], schlicht und einfach, allein dem Verstand zuliebe, des Anstands wegen, sozusagen.” —Imre Kertész, aus: Roman eines Schicksallosen
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“Wenn überhaupt, kann eine befriedigende deutsch-jüdische Normalität auf Dauer nur durch tätiges Miteinander entstehen. Normalität entgleitet immer dann, wenn man sie zu beschwören versucht.” —Salomon Korn
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“Ich kann eigentlich über mein Judentum gar nicht schreiben, genauso wenig wie über mein Deutschtum: Beide habe ich nicht, sondern sie haben mich. Man ist hineingeboren, hat eine Erziehung erlitten, und dann hat es einen, ohne dass man viel dazu tun muss. Gerade das Judentum ist sehr anhänglich, es klebt wie Pech, und es bedarf schon einer großen Anstrengung, um es loszuwerden; viele haben es ganz vergeblich versucht.” —Max Fürst
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Singe mir ein Lied, sagst Du
Sing mir ein Lied, das Lied der Erstgeborenen des 20. Jahrhunderts, die in ihm lebten,
die es nicht überleben werden,
und vergiss die Hoffnung nicht.
Singe von dem Reichtum, von der Armut derer, die im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts geboren, es noch kosten konnten, als es jung war,
die es auskosten mussten, die es nicht überleben werden,
und vergiss die Hoffnung nicht.
Singe ein Lied von dem Glück, von der Schande dieser Jahre, vom gewaltsamen Tod, der die Vielen traf, von der Demütigung, die jeden traf, den Tag der Einfalt, der Ruhe in wenigen Stunden, der Verzweiflung,
und vergiss die Hoffnung nicht.
Singe ein Lied Deiner Taten, die zu gering wogen, sich nicht vollendeten, abprallten am Stumpfen.
Zu früh ermattest Du, zu früh ergabst Du Dich, rettest das Leben, wo andere starben, doch vergiss die Hoffnung nicht.
Singe ein Lied von der Schuld der Anderen, von der eigenen Schuld am Bösen, am Guten, das auch Du nicht unterscheiden konntest, Du, der Du dieses Jahrhundert nicht überleben wirst, dessen Hände schon gesunken sind, der Du müde bist, wie immer zur Unzeit, vergiss die Hoffnung nicht.
Singe ein Lied, sagst Du, Dir sage ich’s, dem später Geborenen, der Du unschuldig in unsere Schuld hineingeboren wurdest und sie auf Dich nehmen musst, nimm auch die Tat aus unseren Händen.
Du, der Du ins nächste Jahrhundert langen wirst, das verspricht, was wir nicht halten konnten.
Vergiss die Hoffnung nicht.
—Max Fürst (1905-1978)
Wir haben etwas sehr Wichtiges gemeinsam: unsere Sprache.
Obwohl ich schon seit mehr als 30 Jahren nicht mehr in Deutschland lebe, nach langen Jahren Aufenthalt in Israel, seit 1995 in New York lebe und arbeite, ist die deutsche Sprache unsere Verbindung. Mit ihr können wir uns verständigen, könnt Ihr mich kennenlernen und meine Geschichte lesen.
Vielleicht werdet Ihr nach der Lektüre in der Sprache einen wichtigen Komplizen erkennen. Vielleicht werdet Ihr mir am Ende meines Berichtes verständig zunicken und mit mir übereinstimmen, dass Sprache Brücken bauen—aber auch einstürzen lassen kann.
Ich bin Journalistin und Deutsche. Ich bin Jüdin und lebe seit mehreren Jahren in New York. Die Sprache ist für mich, was Tanzschuhe für einen Tänzer sind: mein Werkzeug. Die Sprache ist meine Kamera, mein Farbpinsel, ein Klümpchen Ton zum Formen von Gegenständen. Sprache ist aber auch ein Stückchen Heimat für mich, denn obwohl ich auch Englisch und Hebräisch fließend spreche, ist Deutsch meine sicherste Ausdrucksform. Ich fühle mich zwar nicht mehr als Deutsche, bin “überall-zuhause”—doch meine Muttersprache ist immer noch meine Zuflucht, meine Identität.
Ich musste um die halbe Welt reisen, um 13 Jahre nachdem ich Deutschland verlassen hatte, in New York wieder auf meine Muttersprache zu stoßen: Ich wurde Redakteurin bei der deutschsprachigen Exilzeitung Aufbau, die 1934 von deutschen Juden, die aus Nazideutschland fliehen mussten, gegründet wurde.
Jetzt war ich der Immigrant. Und so wie viele namenhafte Autoren und Journalisten bei dieser Zeitung eine neue Heimat gefunden hatten, um in ihrer Sprache in der Fremde publizieren zu können, so sah ich mich nun der Herausforderung gegenübergestellt, wieder auf Deutsch zu schreiben.

Ich kann ich mich mit den Worten von Henry Marx identifizieren, der lange Jahre Chefredakteur des Aufbau war:
“Obwohl ich weniger als ein Viertel meines Lebens—18 von 80 Jahren—in Deutschland verbracht habe, waren es vor allem die zehn Berliner Jahre vor meinem Exil (1926-1937), die mich geprägt haben”, schreibt Henry Marx. Und weiter: “In diesen zehn Berliner Jahren wuchsen mir die geistigen Wurzeln und begründeten mein ‘portatives Vaterland’, das ich in die Fremde mitnahm.”
Sprache ist also Heimatgefühl. Denn, wie der verstorbene Philosoph Ernst Bloch einmal sagte: “Heimat ist etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war”. Man kann seine Heimat zwar verlassen, aber nie ganz abschütteln. Das haben viele jüdische Emigranten schmerzlich am eigenen Leibe erfahren müssen. “Heimat ist, wo man den Nachbarn kennt, wo die Kinder an den Fingern die Bahnstationen aufzählen”, schrieb der Schriftsteller Max Fürst. Und: “Heimat ist auch, wenn man auf viele Kilometer jeden Schritt genau kennt und ganz ,wischig‘ [kribbelig] ist, weil man nicht weiß, was man dem Fremden, dem Freunde zuerst zeigen will.”
Ein bunter Fisch in Berlin
Meine frühesten Kindheitserinnerungen haben mit Sprache zu tun, mit Sprache, die meine Identität formte, und mich einer Religion nahebrachte, die in Deutschland fast kaum mehr vertreten war. Es war eine “versunkene” Welt, eine romantisierte Welt, die nicht mehr da war. Obwohl diese Welt natürlich nicht sang- und klanglos “versank”—sondern zerstört wurde. Und dennoch ist das Aufleben jüdischen Lebens in Deutschland immer noch etwas Außergewöhnliches, ein Zustand, den man bestaunt. Jude sein in Berlin, ist immer noch wie ein bunter Fisch inmitten von einem Schwarm sich schämender Heringe zu schwimmen; einem Fabel-Wesen gleich, dem man vorsichtig entgegentritt, um es nicht zu verletzen und um nicht beschuldigt zu werden, es anfeinden zu wollen.
Als ich die ersten “Judenwitze” in der Schule hörte, fühlte ich eine unglaubliche Wut in mir. Meine Verachtung lud sich auf alles ab, was mit Deutschland zu tun hatte. Erst jetzt habe ich mehr Abstand gewonnen. Ich fühle mich nicht mehr als Deutsche. Ich habe mich dem Land entfremdet. Diese sogenannten “Witze” über Juden, die die Schüler sich erzählten und vielleicht sogar immer noch in den Schulen kursieren, sind ein Schmutzfleck in meinem Gedächtnis: ich kann ihn nicht loswerden. Denn was einmal ausgesprochen wurde, bleibt haften. Dabei ist diese Leichtfertigkeit der Schüler im Nachhinein schmerzlicher für mich als offener Antisemitismus von Neonazis, dem ich später auch begegnete, und den ich mit allen Waffen bekämpfen kann. Die Unwissenheit der Schüler jedoch, dass eine abfällige Sprache verletzen und aufwiegeln kann, ist für mich insofern beunruhigender, weil daraus irgendwann einmal Apathie und Gleichgültigkeit entstehen können. Es ist schwer, Unwissenheit energisch entgegenzutreten, ohne den schwer Belehrbaren vor den Kopf zu stoßen, und ihn somit als wichtigen Verbündeten zu verlieren. […]
Warum soll ich etwas gegen Deutsch haben?
Jetzt braucht Ihr aber nicht zu erschrecken! “Woher sollen wir denn wissen, welche Ausdrücke von den Nazis missbraucht wurden?”, höre ich Euch ausrufen. “Das ist doch so lange her, damit haben wir nichts mehr zu tun!” meint Ihr empört. “Ist es denn unsere Schuld, dass vor langer Zeit die deutsche Sprache als Waffe gebraucht wurde, um Menschen zu erniedrigen?” Natürlich nicht, Ihr habt Recht. Übervorsichtigkeit und Angst, sich klar auszudrücken, führen nämlich auch nicht zum Ziel. ‘Umgekehrte Diskriminierung’ nennt man das, wenn eine Gruppe, zum Beispiel Juden, besonders vorsichtig behandelt wird. Wenn zum Beispiel nicht mehr das Wort “Jude” ausgesprochen wird, sondern, aus Angst vor dem Wort, nur von “jüdischen Mitbürgern” oder von “Menschen jüdischen Glaubens” gesprochen wird. Aber vergesst darüber nie, dass Worte auch verletzen können. Viele scheinen sich eine sprachliche Verklemmtheit anzueignen, zu der kein Grund besteht, und die Juden selbst für sich ablehnen. Eine Kollegin von mir, die als Kind aus Berlin fliehen konnte und über die Schweiz nach Kriegsende in die USA kam, sagt immer: “Warum soll ich etwas gegen Deutsch haben? Wegen Hitler? Hitler hat doch Deutsch nicht erfunden. Er konnte es ja noch nicht einmal richtig sprechen!”
Viktor Frankl, der jüdische Psychoanalytiker, der 1905 in Wien geboren wurde und die Konzentrationslager Theresienstadt und Auschwitz überlebt hatte, antwortete einmal auf die Frage, wie er nach Auschwitz seine Bücher noch auf Deutsch, Hitlers Sprache, schreiben könne: “Und wieso haben Sie in Ihrer Küche noch Küchenmesser, wo Sie doch genau wissen, wie viele Menschen täglich erstochen werden?”
Dazu fällt mir auch ein wunderbarer Text ein, den der Lyriker und Essayist Walter Mehring im Exil geschrieben hatte. Mehring wurde 1896 in Berlin geboren, floh 1933 über Paris und Wien und konnte 1941 über Marseille nach New York entkommen. Mehring schrieb 1935, dass selbst ein Diktator wie Hitler einfache Regeln der Grammatik beibehalten sollte:
“Als Bibel des Nationalsozialismus gilt [Hitlers] Werk “Mein Kampf”. 6 Millionen ist diese Lektüre Pflicht. Am Studium dieses Werkes bildet sich die heranwachsende Jugend. Das ist das Bedenkliche! Mag man jedem, der seine Gedankenvorgänge kritisiert, Voreingenommenheit vorwerfen: für jeden, der Hitlers Stil untersucht, bleibt unableugbar das Faktum bestehen, dass Hitlers Sprache Satz für Satz gegen die primitivsten Regeln der deutschen Grammatik und der deutschen Syntax verstößt, gegen Regeln, die außerhalb des Machtbereiches selbst des mächtigsten Diktators liegen.”
Vergiftende Vorurteile in der Sprache
Ich finde, man sollte lernen, welche Ausdrücke und Redewendungen von den Nazis missbraucht wurden, schlimmer noch: geprägt wurden. Nur dann kann man umsichtig mit der eigenen Sprache umgehen. Und Sprache, wie gesagt, ist unser wichtigstes Kommunikationsmittel, baut Brücken oder lässt sie einstürzen. Ich bitte Euch darum: Seid hellhörig! Redet jemand in Eurem Beisein von “Hühner-KZ”, oder von der “Endlösung” in einem anderen Zusammenhang als dem Holocaust, greift ein! Hört ihr jemanden ausrufen “das haben wir ja schon bis zur Vergasung gelernt!” klagt an! Ich tue das auch, fast täglich. Dennoch: In Deutschland gelten Juden immer noch als die Autorität in Sachen Fremdenhass und Antisemitismus. So als müssten sie besonders hilfreich und gut sein, so als haben nur sie aus der Vergangenheit lernen müssen. Juden sind keine Spezialisten für Holocaust und Neonazis! Sie sind keine besseren Menschen! Feinfühlichkeit und Sensibilität im Umgang mit anderen Menschen, mit der Sprache, sollte von jedem erwartet werden. Von jungen, alten, von Deutschen oder Israelis, wer auch immer. Juden sind schlecht und gut, wie auch Christen schlecht und gut sind. Sie haben Vorurteile, Besonderheiten und Merkmale, wie jede andere Gruppe auch. Sie machen zum Teil dieselben Fehler, grenzen sich von der Masse ab, aber man kann von ihren Erfahrungen lernen.
Aufbau hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Verklemmtheit gegenüber Juden, gegenüber der Sprache, abzubauen. In die Redaktion am Broadway kommen regelmäßig junge deutsche Journalisten, um für drei Monate lang ein Praktikum zu absolvieren. Viele sind mit der Thematik der Zeitung schon vertraut, also mit Emigration, Holocaust und deutscher Geschichte. Sie gehen sensibel mit der Sprache um, wissen, dass unsere Leser Emigranten sind, die ihre Heimat verlassen mussten und dennoch an ihr hängen—dennoch sind diese jungen Praktikanten in ihrem Eifer, nichts falsch zu machen, übervorsichtig, ja fast verklemmt. Viele dieser jungen Deutschen, so habe ich gemerkt, sind einfach verunsichert worden. “Ich möchte in New York gerne jüdische Menschen sehen”, erklärte mir einmal eine junge Praktikantin auf die Frage, was sie in New York erleben möchte. “Meinst Du amerikanische Juden?” fragte ich sie. Sie nickte. Das Wort ‘Jude’ kam ihr aber nicht über die Lippen. Ich musste ihr erklären, dass ‘Jude’ kein Schimpfwort sei und ausgesprochen werden darf. Und Juden in New York? Nichts leichter als das! “Schau aus dem Fenster”, riet ich ihr. “Drei Millionen Juden leben in dieser Stadt”. Sie begriff zuerst nicht, was ich meinte. Und dann verstand ich ihre Verwirrung: Sie erwartete schwarzgekleidete Männer mit langen Bärten, die fröhlich zu Klezmer Musik tanzen und untereinander Jiddisch, oder wenigstens Hebräisch, reden. Stattdessen sah sie normales Stadttreiben, Menschen wie sie auch. Ihre Verwirrung war groß. So hatte sie sich Juden nie vorgestellt.
Offensichtlich war sie erleichtert. […]
Mit dem Bauch denken
“Wiedergutmachung”. Was für ein scheußliches, anmaßendes Wort. Kann man den Tod einer Familie mit Geld wieder gutmachen wollen? In Deutschland wird dieses Wort immer noch vorbehaltlos gebraucht. In Israel wird das neutralere Wort “Zahlungen” benutzt, im Englischen spricht man einfach von “Restitution”. Immerhin gibt es auch einige Deutsche, die sich an diesem Begriff stoßen. Eine unserer jungen Praktikantinnen redigierte gerade ein Manuskript, als sie auf “Wiedergutmachung” stieß. Sie setzte es ohne Umschweife in Anführungszeichen.
Ich war sprachlos. Da war also ein junger Mensch, der sprachliches Feingefühl besaß! Der mit dem Bauch denkt. Es entstand eine heftige Diskussion unter den Praktikanten. Einige meinten, man sollte das Wort so gebrauchen, wie es gemeint ist: als ein bürokratisches Kürzel. Ohne zu werten. Sie warfen uns Redakteuren vor, übersensibel zu sein. Andere wiederum sagten, man sollte auf sein Gefühl vertrauen: Stößt man sich an einem bestimmten Wort, ist es einem zuwider, muss man diesen Ausdruck schließlich nicht stillschweigend benutzen, nur weil er sich eingebürgert hat und es die Mehrheit tut. Was meinst Du?
In der Redaktion werden verzerrende Begriffe wie “Wiedergutmachung”, “Kristallnacht” oder “Machtergreifung der Nazis” nur in Anführungszeichen gesetzt. Hier sterben die Überlebenden auch nicht “aus”, wie in der Tierwelt. Da fällt mir noch ein Beispiel ein, wie unbedacht manchmal mit der Sprache umgegangen wird: Ein Leser aus Deutschland wollte eine Suchanzeige aufgeben. Als früheren “Wohnort” gab er doch tatsächlich das KZ Sachsenhausen an. Auch bei einer weiteren Unüberlegtheit sollte eingeschritten werden: Viele reden immer noch wie selbstverständlich von “Halb-Juden” oder “Viertel-Juden”, getreu der Rassenideologie der Nazis. Also: Entweder ist man Jude—oder man ist es nicht. Vierteilen soll man ihn nicht! […]
Eine Menorah aus Schokolade
New York im Winter: Neben Weihnachtsbäumen und Krippen sieht man in jeder Schaufensterauslage auch einen Chanukah-Leuchter. Das nennt man hier “politisch korrekt”, doch zeugt es nur von dem Respekt, den Amerikaner gegenüber anderen Religionen haben. Und in fast jedem Wohnhaus steht in der Lobby ein geschmückter Weihnachtsbaum neben einer Menorah. Deutsche Touristen sind immer wieder erstaunt, dass jüdische Feiertage—ganz wie Weihnachten und Ostern—ihre eigenen Symbole haben, die durchaus auch in Schokolade gegossen verkauft werden. Mehr noch: Für sie ist die Freude immer wieder groß, wenn sie “deutsche” Worte aus dem Munde der New Yorker hören. Hier “shleppt” man sich nämlich, wenn man schwer zu tragen hat, man “shmirt” sich ein Brot mit Butter, und wenn es regnen könnte, hört man im Wetterbericht, es würde einen “spritz” geben. Deutsch in New York? Es ist Jiddisch, das hier wie selbstverständlich in die englische Sprache übernommen wurde und das von dem Einfluss der Millionen von jüdischen Einwanderer zeugt, die in die USA kamen. Hier ist es also vollkommen normal, mit dem “Fremden” zu leben—der ja so fremd gar nicht ist. Man redet zwar vom “Schmelztiegel New York”, dieser riesigen Einwanderungsstadt, aber jeder darf seine ethnischen Besonderheiten beibehalten und gehört trotzdem dazu. Es ist erfrischend zu sehen, wie unkompliziert die amerikanischen Christen mit den amerikanischen Juden umgehen: Sie werden weder herausgehoben aus der Masse, noch unterdrückt, noch in Watte verpackt—sie sind einfach ein normaler Teil der amerikanischen Gesellschaft. […]
Zurück nach Deutschland. Noch immer scheint dort das jüdische Leben hauptsächlich mit Tod in Verbindung gebracht zu werden. Schenkt man den Medien Glauben, so ist es, als vermehren Juden sich über alte Männer und Grabsteine. Doch es leben Juden in Deutschland. Und Heilung kann nur beginnen, wenn nicht nur Grabsteine mit Judentum assoziiert werden, sondern junge Juden als Nachbarn, Freunde, Klassenkameraden gesehen werden, die eben einer anderen Religionsgemeinschaft angehören. Leicht ist das nicht. Es ist schwierig, den Toten ein lebendiges Andenken zu schaffen und ihre Nachkommen als einen natürlichen Teil der Gesellschaft zu sehen. Es ist der Umgang mit dem Heute, das herausfordert. Und das beinhaltet auch das Verständnis gegenüber dem Fremden. […]
Fragt uns aus!
Wer sind aber die Überlebenden, die rechtzeitig vor Hitler fliehen konnten? Die deutsch-jüdischen Emigranten in den USA fühlen sich als Amerikaner, hängen aber noch an ihrem deutschen Erbe. Ganz im Gegensatz zu ihren Kindern und Enkeln, die kein Deutsch mehr sprechen und auch keine Interesse haben an ihren deutschen Wurzeln. Dabei sind ihre Eltern wichtige Zeitzeugen, von denen man sehr viel lernen kann. Viele von ihnen sind noch im hohen Alter von einer auffälligen sprudelnden Lebenslust, wenige sind verbittert. Vielleicht weil ein schweres Leben den Geist wachhält, zu immer neuen Herausforderungen anregt, Selbstmitleid und Weinerlichkeit verdrängt. Ein wichtiger Zeitzeuge war der 1993 verstorbene Dichter Hans Sahl. 1902 in Dresden geboren, konnte er 1940 in die USA entkommen. Er hat kurz vor seinem Tod folgendes Gedicht an Schüler wie Euch geschrieben:
“Ihr, die Ihr geboren seid, um zu vergessen, was wisst Ihr von den Tollheiten der Menschen? Die Wiese, auf die Ihr Euch legt, verrät Euch nicht, wie viele von uns dort umkamen, die Hand, die Ihr schüttelt, dass es eine Mörderhand sein könnte, die Euren Gruß nicht verdient. Unser Dasein ist für Euch bereits Legende geworden, unser Leid ein Gerücht von gestern. Aber in den Liedern der Vertriebenen und im Rascheln des Windes, der ein verbranntes Buch aufblättert, erzählen wir Euch, was geschah, als der Hahn zum dritten Mal krähte.”
Ich fühle mich diesem Gedicht sehr nahe. Ich sehe es als meine Aufgabe an, zu erzählen, zu hinterfragen. Und obwohl das Vergangene weit entfernt liegt, man nicht mehr direkt betroffen ist—auch ich bin das nicht—sollte jeder das tun. Es gibt diesen abgegriffenen Satz “aus der Geschichte lernen”. Da ist etwas dran. Glaubt’s mir! Denn was Du erlebst, kann keine Macht der Welt Dir rauben. […]
Die Sprache als Brücke
“Woher kommst Du?” fragte mich ein alter Israeli im Kibbutz. Er hatte eine eintätowierte Nummer auf dem Arm. “Deutschland”, antwortete ich, “Berlin”. “Jaja, Berlin”, er blickte mich neugierig an und wurde gesprächig. “Berlin…”, fast sehnsüchtig klang das, “…da komme ich her. Aber, laß’ uns nicht Deutsch sprechen.” So sprach er Jiddisch und ich antwortete auf Hebräisch. Er fragte mich nach seiner alten Heimat aus, erinnerte sich an Straßennamen, ging mit mir an die Orte seiner Kindheit. Er gab mir nicht das Gefühl, in irgendeiner Weise verantwortlich zu sein. Aber keine seiner Fragen formulierte er in seiner Muttersprache. Dennoch schien er glücklich. Da war es wieder: Die Sprache als Brücke. Sprache, die Erinnerungen hervorruft und wachhält, die weh tut, vor der man Angst hat, die aber auch Kommunikation ermöglicht.
Ich fühle mich überall zuhause, wo ich die Sprache verstehen kann, wo ich die Zeitungen lesen kann, schreiben kann und in der Landessprache wütend werden kann. Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich jüdische Emigranten in Shanghai oder Buenos Aires gefühlt haben müssen, die nicht nur aus ihrer vertrauten Umgebung gerissen wurden, sondern auch ihrer neuen Umgebung sprachlos, verständnislos gegenüberstanden. Meine eigene Wanderung—von Berlin, über Tel Aviv nach New York—vollzog sich reibungslos. Ich verstand meine Umgebung, sie verstand mich, ich war fähig, mich auszudrücken. Obwohl es natürlich Kulturunterschiede gab, die mir das Leben schwer machten. Aber das ist eine ganz andere Geschichte.
In den vielen Jahren, die ich in Israel verbracht habe, wurde ich nie angefeindet oder angeklagt. Außer, wie gesagt, dass einige Überlebende mit mir nicht auf Deutsch reden wollten, wurde ich nicht mit der deutschen Vergangenheit in Verbindung gebracht. Ich habe nie offene Aversion gegen mich, oder gegen Deutschland gespürt. Und das ging auch Deutschen so, die nicht jüdisch waren. Man trat ihnen mit sehr viel Neugier entgegen. Viele deutsche Touristen ziehen es dennoch vor, auf offener Straße nicht laut deutsch zu sprechen. Wie wenig verstehen sie von der israelischen Mentalität! Die jungen Israelis sehen sich nämlich nicht mehr ausschließlich als Opfer des Holocaust. Sie haben die verhasste “Ghetto-Juden-Identität” abgestreift, sind stolz und haben ein schier unglaubliches Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein. Für junge Israelis ist Deutschland eine Demokratie, ein reiches Land, das viele gerne besuchen. Mehr nicht. Aber es gibt doch noch ältere Israelis, die niemals deutsche Produkte kaufen würden. Jedoch offene Anfeindung gegen Deutsche, die das Land besuchen? Nein. Ich übernahm eine Vermittlerrolle: Die Israelis klärte ich über das heutige Deutschland auf, erzählte ihnen von dem Willen, aus der Vergangenheit zu lernen. Den Deutschen versuchte ich bei meinen jährlichen Besuchen nach Berlin, die verzwickte Lage im Nahen Osten begreiflich zu machen, versuchte, aus den israelischen Soldaten, Menschen werden zu lassen, die auch Ängste und Wünsche haben und um ihr Leben bangen.
In Deutschland ist das Gedenken an die Opfer bei vielen zu einem unpersönlichen Kranzabwerfen verkommen. Als Pflichtübung, die man eben ablegen muss. Dabei ist die große Gefahr weniger, dass der Holocaust vergessen wird, als dass vergessen wird, wie er sich ereignete. Im israelischen Verständnis dagegen steht der Holocaust in einer historischen Abfolge jüdischer Katastrophen, nach denen das Judentum—wie verheerend deren Folgen auch gewesen sein mögen—stets weiterlebt und zu neuer Blüte fähig ist. Und auch wenn Juden und Nicht-Juden naturgemäß aus unterschiedlichen Blickwinkeln gedenken: Die zweigeteilte Last der Erinnerung wird man auch in Zukunft gemeinsam tragen müssen. […]
Erinnerungen wie Nüsse sammeln
Wo ist Heimat? Lange habe ich über eine Antwort nachgegrübelt, habe mir darüber den Kopf zerbrochen, wo genau ich hingehöre. Die Antwort habe ich erst letztes Jahr gefunden, von einer mir sehr nahestehenden Person—meiner Mutter. Auf meine Frage, ‘wo ist man zuhause’ schrieb sie mir folgendes: “Die vielen Begriffe, die mir dazu einfallen, umkreisen nur, aber können nicht diesen Punkt bestimmen. Das geht schon eher: einsammeln und ausgeben, durchleben, verändern und gestalten, scheitern—neu anfangen. Um in dieser schwierigen Balance, Leben plastisch zu machen—da wo das möglich und lebbar ist, mit der Gewissheit zu lieben und geliebt zu werden, Vertrauen zu empfangen und zu geben—da dürfte der Punkt sein. Er kann auch an verschiedenen Orten liegen und ‘zuhause’ bedeuten. Du darfst sie bloß nicht vergessen, diese Punkte, und musst sie immer wieder neu finden. Und nicht wie das schusslige Eichhörnchen, mit seinen mehreren Wohnungen—angefüllt mit Nüssen—vergessen.” […]
Je länger ich in den USA lebe, desto mehr fühle ich mich als Israelin, als Europäerin, als Jüdin—aber immer weniger als Deutsche. Das schmerzliche Abrechnen mit Deutschland bricht hier nur manchmal auf mich ein. Kann ich sagen, dass mich das stört? Nein, ich bin darüber hinweg. Obwohl ich es leid bin, amerikanischen Juden immer wieder meine ganze Vergangenheit, die Herkunft meiner Großeltern, erklären zu müssen. Ich sehe es ihnen jedoch nicht nach. […]
Der deutschen Sprache entfliehen?
Muttersprache, Kindheitssprache, Aufarbeitung der Geschichte. Ich habe einen Komplizen in dem Schriftsteller Ralph Giordano gefunden, der den Zweiten Weltkrieg versteckt in Hamburg überlebte—nur kennt er mich nicht. “Ich wäre mir vorgekommen wie ein Deserteur, wenn ich den Vorsatz, Deutschland zu verlassen, wahr gemacht hätte”, schreibt Giordano. “Ich wäre mir vorgekommen, als wäre ich geflohen vor der Aufgabe, zu verhindern, dass das, was ich die Zweite Schuld nenne, also die Entstrafung der Täter, geschah. Der andere Grund war die deutsche Sprache. Die deutsche Sprache war immer meine Mutter. Sie war immer das wunderbare Werkzeug meines Berufes.[…]”
Ich fühle mich nicht als Deserteur. Ich bin vor meiner Aufgabe als junge Deutsche der Nachkriegsgeneration nicht geflohen. Wichtiger als alles andere ist mir der Dialog, der überall stattfinden kann. Denn nur in der Sprache liegen meine Wurzeln.
Auch Rabbiner Fred Abraham Manela, 78, setzt sich für den deutsch-jüdischen Dialog ein: Er unternahm bis jetzt 25 Reisen nach Deutschland, um an deutschen Schulen und Universitäten über die Vergangenheit zu sprechen. Manelas Vater wurde in Dachau ermordet, er selbst überlebte den Holocaust versteckt bei einer christlichen Familie in Berlin. Kürzlich erhielt ich von ihm einen Brief, aus dem ich Euch hier gerne Ausschnitte zitieren möchte. Ich kann mir keinen besseren Schluss für meinen Bericht vorstellen:
“Die jungen Deutschen leben in einem Land, das eine schwere historische Last trägt, aber diese Generation ist nicht verantwortlich für die Tyrannei Hitlers und seiner Schergen. Ich zeige ihnen den falschen Preis für ‘Ruhe und Ordnung’ damaliger Zeit, damit sie nicht für die falschen Götter Millionen Opfer bringen müssen.” Und weiter schreibt er: “Wer nur hasst, der denkt nicht. Ich weiß, dass wir alle, speziell meine Generation, ins Gras beißen müssen. Jedoch solange es möglich ist, müssen wir zur “Tikkun Olam” (hebräisch für ‘Heilung der Welt’)—speziell in Deutschland—arbeiten. Den jungen Deutschen das falsche Schuldgefühl von den Schultern nehmen, und sie zu Kämpfern gegen die Unbelehrbaren machen.”
Ich will die Gedanken von Rabbiner Manela mit meiner eigenen Interpretation ergänzen. Wir stehen kurz vor dem Ende eines Jahrhunderts, in dem ein zersetzender Orkan der Nichtachtung menschlichen Lebens von einem Streben nach Frieden abgelöst wurde.
Rechtschaffenheit verweilt in uns als konstante Waagschale, ist Teil des Balanceaktes von unserem Gemüt auf der einen, und unserer unmittelbaren Ausdrucksweise auf der anderen Seite. Und je mehr wir uns selbst in einem solchen Ausgleich erkennen, umso mehr beteiligen wir uns an der positiven Zukunft von Geschichte.
Dies ist die gekürzte Fassung meines Essays, der 1999 in dem zweiten Heftchen der Kaufmann-Marx-Foundation, New York, mit dem Titel Die Zukunft von Geschichte erschienen ist. Die Heftchen sind für den deutschen Schulgebrauch gedacht; in ihnen berichten junge amerikanische Juden und junge Deutsche über ihre sehr persönlichen Erfahrungen.
George Kaufmann über seine Mission:
“[Junge amerikanische Juden] schreiben über ihren Alltag, wie sie als Juden leben, was sie über die Beziehung zu Deutschland wissen und denken. Junge Deutsche berichten ebenfalls über ihre Eindrücke und Begegnungen mit dem Judentum in den USA, über ihre eigene Familien- und Lebensgeschichte in Deutschland und aus der Kenntnis ihrer Geschichte und Gegenwart.
Beide Seiten erfahren lebendige Gegenwart in ihrer Vielfalt. Sie setzen sich mit Stereotypen und Vorurteilen, Hoffnungen und Visionen auseinander, lernen einander zu verstehen und orientieren sich in Richtung Zukunft.
Mit den vorliegenden Handreichungen möchte die Kaufmann-Marx-Foundation diesen Gedankenaustausch zwischen jungen Menschen fördern. Je ein persönlicher Bericht von beiden Seiten des Atlantiks bietet vielfältige Ansatzpunkte in diese notwendige Richtung, die sich nicht besser formulieren lässt als durch den Hinweis von Antoine de Saint-Exupery aus Der kleine Prinz:
»Richtig sieht man nur mit dem Herzen, das Wesentliche ist für das Auge unsichtbar«.”
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