War ich je hier? Ich war es immer
und sah Berlin in vielen Träumen brennen.
Ich gehe durch die Stadt, die ich verlernte,
ich werde wieder Straße, Nacht und Regen
und gehe mit den Toten in der Menge.
Die Kinderschrift, in der ich deinen Namen malte,
ist ausgelöscht und viele Narben bluten.
Du liebe Zeit, man kann sie kaum noch zählen.
Du liebe Stadt, wen hat es mehr getroffen,
dich oder mich? Du mußt mir viel erzählen,
wenn wir bei Tagesanbruch uns besehen.
—Hans Sahl
Berlin: Es gibt keine andere deutsche Stadt, die so viele Konnotationen auslöst, Gefühle weckt. Eine aufregende Stadt, eine Metropole, die alte und neue Hauptstadt, wo einem die Vergangenheit an jeder Ecke anzuspringen scheint, um dann wieder verdrängt zu werden von einem optimistischen Erneuerungsdrang. Eine zähe Stadt, die Zentrum des Bösen war, umkämpft, befreit und geteilt wurde und wiedervereinigt als Hauptstadt das nächste Jahrtausend einläuten darf.
Eine “dritte Renaissance” zeichnet sich ab—nach den “Goldenen 20er Jahren”, dem Wiederaufbau nach 1945 jetzt die “Berliner Republik”—Hauptstadt des vereinten, demokratischen Deutschlands und dazu noch mit Politikern der 68er Generation an der Macht, die 1999 vom verschlafenen Bonn nach Berlin zogen.
Doch wie kann man die Vergangenheit mit ihren architektonischen Relikten der NS-Zeit in die Erneuerung einbinden, sich ihnen ehrlich stellen und sie eingliedern in eine neuzufindene demokratische Symbolik? Fast groteske Formen nahm die Problematik an, welches Ministerium 1999, als Berlin wieder Hauptstadt wurde, in die wuchtigen NS-Bauten einziehen sollten. Das Finanzministerium wurde in Hermann Görings ehemaligem Reichsluftfahrtministerium (Bild unten) untergebracht, das Arbeitsministerium musste mit Goebbels Propagandaministerium vorliebnehmen. Die Regierung zog in den Reichstag, der einen Glasdom erhiult, mit Aufgängen für Besucher, so dass, nach dem Konzept des Architekten, “die Wähler über ihren Repräsentanten im Bundestag stehen können”.
Goerings ehemaliges Arbeitszimmer (rechts unten) wurde also modernisiert, um die Spuren der Vergangenheit zu beseitigen (links unten).
Nur mit knapper Mehrheit wurde bestimmt, die Hauptstadt von Bonn wieder nach Berlin zu verlagern, sich so der Vergangenheit zu stellen. Bonn, das kleine verschlafene “Bundesdorf”—”halb so groß wie Chicagos größter Friedhof und zweimal so tot”—ist Berlin so unähnlich wie eine Kleinkunstbühne dem Burgtheater. Der Liedermacher Konstantin Wecker verkündete, die Stadt sei “zu links, spricht einen Dialekt, der so schwer verständlich ist wie bayrisch und befindet sich fast in Polen”.
Überall Spuren der Vergangenheit
Man diskutierte vehement über Berlin als Hauptstadt, und die Diskussion hat auch vor den USA nicht haltgemacht. Spuren der Vergangenheit sind überall in der Stadt: “Die größte Baustelle der Welt” am Potsdamer Platz brachte menschliche Überreste vom Kampf um Berlin 1945 zu Tage; 1994 explodierte einer der 15.000 Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg und tötete drei Bauarbeiter; Goebbels’ und Hitlers Bunker wurden aus dem Dreck gebuddelt, und man fand einen Verschlag mit Wandmalereien euphorischer SS-Soldaten, die, während über ihnen schon die letzte Schlacht tobte, an den Endsieg glaubten. Was soll geschehen mit den Funden? Ängstlich bemüht, diese Stellen nicht zu Wallfahrtsorten rechtsextremistischer Horden zu erheben, wurden Stimmen laut, die unbequemen Indizien des nationalsozialistischen Deutschland einfach wieder zu verscharren. Und noch immer schrecken Architekten vor Achsen, Säulen, mächtigen Portalen und der baulichen Symmetrie des Klassizismus zurück—die Frankfurter Allgemeine Zeitung sprach von einer “deutschen Symbolneurose”.
Auch Dr. Michael Mönninger, Redakteur beim Spiegel, kritisierte in seiner Abhandlung in der Broschüre “Deutschland”, die Verklemmtheit deutscher Architekten. “Nach der Banalität der Berliner Nachkriegsarchitektur tendiert die Stadt am Potsdamer Platz ins andere Extrem: architektonische Übersignifikanz, lauter gebaute Ausrufezeichen.”
Die Hakenkreuze von den Fassaden schlagen
Mit Fortschreiten der Bauarbeiten werden Stimmen laut, man solle die Funde aus der NS-Zeit der Öffentlichkeit zugänglich machen, sie in die modifizierten Regierungsgebäude einbeziehen, als Warnung, zu was Deutschland einmal fähig war. Denn in keiner anderen Stadt der Welt kann die Aufarbeitung mit der Vergangenheit so vorgenommen werden, wie es in Berlin mit den Überresten dieser Epoche möglich wird.
Oder etwa nicht? “Die Deutschen sind wieder eine staatlich verfasste Nation”, setzt die Allgemeine Jüdische Wochenzeitung aus Bonn dagegen. “Die jetzt regieren, sind Danach-Geborene. Sozialdemokraten und Grüne [regieren] im Reichstag der ehemaligen Reichshauptstadt. Dieser Triumph über die eigenen Nazi-Väter könnte die Auseinandersetzung mit der Shoah verdrängen”.
Die Amerikaner begegnen diesem Dilemma mit Kopfschütteln. Man denkt pragmatischer. Die Gebäude wurden ja damals von den Befreiern “entnazifiziert”, indem die Hakenkreuze und Reichsadler einfach von den Fassaden geschlagen wurden. Und hatten nicht die Allierten, Görings Reichsluftfahrtministerium bewusst stehen lassen, weil der robuste Bau den Bomben standgehalten hatte, und dort ihre Verwaltungszentrale eingerichtet? Von 1946 bis 1949 diente der Bau den sowjetischen Besatzern.
1949 wurde dort die offizielle Gründung der DDR gefeiert und nach dem Öffnen der Mauer war in dem Gebäude der Sitz der Treuhand, die die Privatisierung ehemaliger ostdeutscher volkseigener Betriebe vornahm. Die ehemalige Reichsbank, in deren Kellergewölben das Raubgut der Nazis lagerten und wo die Goldfüllungen ermordeter Juden gehortet wurden, war bis vor kurzem Sitz der SED—und wurde das neue Domizil des Außenministeriums der Bundesrepublik.
In den Tresoren im Keller lagerten über die Jahre bis zur Wiedervereinigung klassifizierte Geheimdokumente der Kommunisten, ab 1999 werden dort die Archive des Außenministeriums untergebracht sein. Das Ministerium gab eine Broschüre heraus, die die Vergangenheit des Gebäudes offenlegte. Eine Plakette wurde nicht angebracht, denn der Bau spreche für sich.
Der Prestige Kampf um Berlin
Der New Yorker Journalist Michael Z. Wise, Autor des Buches “Capital Dilemma. Germany’s Search for a New Architecture of Democracy” (Princeton Architectural Press, New York, 1998) beleuchtete erstmals den schwierigen Umgang der deutschen Architekten mit dem Erbe der NS-Zeit. “Wer ein Bild seiner selbst entwerfen und in architektonische Form bringen will, der muss sich zunächst des eigenen Selbst bewusst werden und kann nicht jeden Nationalstolz auf den Fußballplatz verbannen”, schreibt Wise. Gleichzeitig zitiert er in seinem Buch den Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde in Berlin, Andreas Nachama: “Die [NS] Bauten werden in der Politik, die dort gemacht wird, Spuren hinterlassen. Jeder Angestellte, der dort arbeitet, jeder Minister, jeder Sekretär und Repräsentant wird sich der Vergangenheit bewusst werden.”
Im Gespräch, Wise präzisiert seine These. “In Berlin ist ein Kampf ausgebrochen, wie man der Vergangenheit begegnen soll. Es ist gut so, dass die Nazibauten mit in den Regierungskomplex eingebaut werden”, meint Wise. In seinem Buch erzählt er ausführlich von den Schwierigkeiten: Im Reichsluftfahrtministerium fanden Bauarbeiter im Keller eine kleine Truhe mit vergilbten Photographien von Hitler und Göring bei der Einweihung des Gebäudes, nebst dem Adler der Luftwaffe, Swastikas und architektonischen Zeichnungen des Baues. Man war über den Fund dermaßen erschreckt, dass man die Truhe fotografierte und wieder einmauerte. Auch Reliefs, die hinter Verputzungen zu Tage traten wurden eiligst übertüncht.
Diese Unsicherheit mit den Dämonen der Vergangenheit in einer Stadt, deren Bewohner bisher als besonders liberal und geistig unabhängig galten, ist verständlich. Michael Wise: “Es wird nicht leicht sein und es ist wichtig, wie die Geschichte dort hautnah dokumentiert wird. Gleichzeitig sollten auch neue Formen der Architektur in der neuen Hauptstadt gefunden werden. Keine Architekt hat bisher etwas ‘spezifisch Deutsches’ bauen wollen, man schreckt davor zurück. Die Frage ist, welche neuen Bauwerke können die Aussage ‘wir haben jetzt eine andere politische Vision’ ausdrücken—wie können wir demokratische Werte in unseren Bauwerken einfließen lassen. Dieselbe Frage beschäftigt auch die Amerikaner.”
“Die Deutschen übertreiben”
Und tatsächlich, ihr Interesse an Berlin ist groß. Neben dem Architektursymposium in New York, diversen Ausstellungen und Filmvorführungen sowie Michael Wises’ Buch, erschien auch eine 1.100 Seiten umfassende Geschichte Berlins (“Faust’s Metropolis. A History of Berlin von Alexandra Richie, Carroll & Graf Publishers, New York, 1998). “Die amerikanische Öffentlichkeit interessiert sich für die Zukunft Berlins. Anhand von Berlin können die Amerikaner die Zukunft Europas allgemein verfolgen”, so Wise. “Doch einige amerikanische Architekten können nicht verstehen, warum die Deutschen eine solche gequälte Beziehung zur Architektur haben, warum sie so ein Aufhebens machen von Symbolen. Ich glaube, die Deutschen übertreiben mit ihrer Besessenheit mit der Vergangenheit. Es ist wichtig, es ist gut, doch sollte dies überdacht werden und man sollte nicht automatisch das Gegenteil von dem anstreben, was die Nazis priesen.”
Das Dilemma in der deutschen Hauptstadt wirft eine Frage auf, die jetzt weltweit immer mehr in den Vordergrund treten wird: Wem gehört eigentlich die Vergangenheit? Wer darf über sie verfügen? Dürfen das nur die Opfer, oder nur Spielberg oder gar die Deutschen selbst bis zu einem gewissen Grade?
Berlin eine gelackte Hauptstadt?
“Das monumentale Umgestalten der Stadt sollte nicht dazu benutzt werden, die Vergangenheit neu zu interpretieren”, schreibt Alexandra Richie im Nachwort ihres Buches. “Identität kann von Politikern, Historikern und Architekten beeinflusst werden, aber sie kann nicht von ihnen gestaltet werden. Die Versuche, das Alte wegzureißen und eine ‘neue Stadt’ von Anfang an zu planen, Glas und Asphalt über das schwierige Erbe zu legen, würde an den Totalitarismus, an “Hitlers Germania”, an die Stunde Null erinnern. So würde man die Komplexität und den Fortbestand einer lebendigen Stadt verdrängen, und die Bedeutung sowohl des Versagens wie auch der Erfolge der Vergangenheit verzerren”, schreibt Richie.
Michael Wise kommt zu ähnlichem Schluss: “Sollte Deutschland die NS Bauten zerstören, wäre das gleichbedeutend mit einer Unterdrückung der Vergangenheit. Es ist für die neue Regierung besser, mit den Bauten zu leben, so gut es geht. Geschichte kann nicht geändert werden, indem man die Architektur der Epoche verdrängt. Steine sind nicht schuldig. Die Deutschen haben sich bereiterklärt, die Vergangenheit zu akzeptieren, mit ihr zu leben. ”
Berlin wird nie eine gelackte und geleckte Hauptstadt werden, sondern immer im Umbruch sein. Aber einen Aufschwung wird die Stadt erleben, es werden neugierige Menschen kommen, Gegensätze werden bestehen bleiben. Aber eine lebendige und authentische Stadt kann davon nur profitieren.
Die Welt: Das sind die größten Relikte der Nazizeit
ZDF: Böse Bauten—Hitlers Architektur. Eine Spurensuche in Berlin
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