Paul Celan, der verbannte Dichter

Paul CelanJean Firges: Den Acheron durchquert ich: Einführung in die Lyrik Paul Celans, Stauffenburg Verlag, Tübingen 1998, 321 Seiten.

Jean Firges: Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen: Jüdische Mystik in der Dichtung Paul Celans, Sonnenberg Verlag, Annweiler 1998, 180 Seiten.

 

Adorno hat den Ausspruch geprägt, dass nach Auschwitz kein Gedicht mehr möglich sei. “Celan hat den Gegenbeweis angetreten und den Holocaust zum leitenden Thema seiner Dichtung ernannt”. So beginnt Jean Firges seine spannende Analyse über die Lyrik Paul Celans (Den Acheron durchquert ich: Einführung in die Lyrik Paul Celans).”Mit ihr vollzog sich ein Neubeginn in der deutschen Nachkriegsliteratur.” Denn Celan wollte in seinen ‘Gedichten nach Auschwitz’—darunter die Todesfuge, in Deutschland zur Standartgedenklektüre instrumentalisiert—die Toten des Holocaust weiterleben lassen. Auch dann, wenn diese Lyrik den ‘Wortschatz der Unmenschen’ benutzt, der die deutsche Sprache für immer besudelt hat.

Celan (geb. 1920, gest. 1970) wuchs in der Bukowina auf, schrieb auf Deutsch und nannte sich “einen traurigen Dichter teutonischer Zunge”. Er verstand das eigene Überleben als persönliche Schuld. “Von jeder Reise in die Bundesrepublik kehrte Celan beschädigt zurück”, erinnert sich Günther Grass, der den Dichter 1956 in Paris kennenlernte. Es läge ihm viel an dem ‘jüdischen’ seiner Gedichte, betonte Celan immer wieder. Doch ging er, im Gegensatz zu Nelly Sachs, trotz der Todesfuge, nie als ein ‘jüdischer Dichter’ in das Bewusstsein seiner Leser ein.

 

Der Dichter als Verbannter

 

Nach dem Krieg suchte Celan über Bukarest und Wien Zuflucht in Paris. Die deutsche Sprache schien dort weniger zerstört; doch es war für den mittellosen ostjüdischen Dichter auch ein Ort der Leere. Deutsch war Celans Muttersprache, doch er schrieb deutsche Gedichte als ein Verbannter. Unermüdlich den Weg zu finden, in der Sprache der Täter, den Opfern der Shoah— darunter seinen Eltern—zu gedenken, schuf für Celan die Grundlage zur eigenen Lebensbewältigung.

Die Ideen kamen ihm meist beim Spazierengehen. Seine rhythmische Poesie erinnert an einen zügigen Gang durch den Wald. Und doch zerbrach er allmählich an ihr: Seine Lyrik wurde zum Fragment. 1970 stürzte sich Celan, tief vereinsamt und desillusioniert, in die Seine und ertrank.

Jean Firges versucht anhand von 80 Gedichten, die Lyrik Celans behutsam zu entwirren. Sein Buch soll “die Scheu vor der Dunkelheit des Autors nehmen”. Und genau das gelingt ihm. Mit verblüffender, fast an Mathematik grenzender Genauigkeit, schält er Metapher von Allegorie, Anspielungen von Analogien, zitiert und vergleicht. Er entschlüsselt traurige Worte, in denen Verzweiflung zu Tage tritt (die Gestalt der toten Mutter als Metapher für seine Schuld), dann wieder Hoffnung (“Es sind noch Lieder zu singen jenseits der Menschen”), auch Sehnsucht, manchmal Lebenslust—doch nie Hass. Das Buch ist untergliedert in die vier Themenkreise, die Celan wieder und wieder durchschritt: Reise (der ewige Jude), Tod (seiner Mutter), Traum (Verarbeitung des Schuldgefühls) und Melancholie (Resignation im ‘Raum der Enge’). Der Leser schreitet zuerst verzagt mit, nähert sich dem Dichter langsam, hadert mit ihm und lernt ihn schließlich kennen.

 

Die schlackenreine Wahrheit

 

Dabei begeht Jean Firges nicht dieselben Fehler, denen Kritiker von Dichtung allzu gerne verfallen: übereifriges Analysieren, didaktische, altkluge Zerpflücken von Texten, bis der Analytiker sogar die Sprache des Dichters für sich beansprucht, schön klingen will. “Der Ort der Dichtung ist immer subjektiv”, schrieb Helmut Böttiger (Orte Paul Celans, Paul Zsolnay Verlag), “und manchmal stößt man an einen Grund, der nur für einen selbst von Bedeutung ist”. Auch Firges ist sich dieser Hürde bewusst: Er nimmt den Leser nicht an die Hand sondern er liest mit ihm die Gedichte. Firges scheint manchmal selbst erstaunt über seine Befunde und lässt manches offen, absichtlich unentdeckt; er schreibt klar und unprätentiös und überlässt Paul Celan das Podium. Der Leser muss Firges am Ende der Lektüre zustimmen, dass für Celan “das Ideal nicht mehr die Schönheit und der Wohllaut [war], sondern die ‘Wahrheit’. Diese wollte [Celan] ‘schlackenrein’.”

“Niemand hatte rechtes Verständnis für [Celans] originelle Gedichte mit den besonderen, eigenen Metaphern”, so Rose Ausländer, die—auch aus der Bukowina stammend—Celan 1944 in Czernowitz kennenlernte. Dort wurde er als Paul Antschel geboren, in einer Gegend, “in der Menschen und Bücher lebten”, wie er einmal sagte. Und die später zum Grab der Mutter wurde.

 

WIE DU dich ausstirbst in mir:

noch im letzten

zerschlissenen

Knoten Atems

Steckst Du mit einem Splitter

Leben.

 

Das DU steht für die ermordete Mutter, die “Tödin”, um deren Überleben im Gedächtnis Celan seine Gedichte schreibt. Und die seine Lebenskraft aussaugt. Celans Gedichte zeugen von Selbsthass, versuchen sich in ihrer Traurigkeit gleichzeitig freizumachen von der Schuld, die den Dichter lähmt. Es scheint, als wäre Celan über die Jahre im Exil mit seiner Mutter gestorben, wieder und wieder einen langen, quälenden Tod.

 

DU WARST mein Tod:

dich konnte ich halten,

während mir alles entfiel.

 

“Aber diese Mutter, die ihm den Tod bringt”, so Firges, “war in seinem Leben auch der einzige Halt, sie garantierte ihm als Gedächtnis das Überleben in der Dichtung”. Dass das Gedicht Gedächtnis ist, bringt es in die Nähe des Traumtextes. Firges: “Der Dichter hat zwei Augen: das Tagesauge (oft blind oder geblendet) und das Nachtauge—und dieses war bei Celan sehend.”

 

DER EINSAME

Mehr als die Taube und der Maulbeerbaum,

liebt mich der Herbst. Und schenkt mir den Schleier

“Nimm ihn zu träumen”, stickt er den Saum.

Und: “Gott ist auch so nahe wie der Geier” […]

 

Celan sei kein Surrealist gewesen, schärft Firges dem Leser ein. Er hielt nichts vom ‘Diktat des Unterbewussten’, das den Dichter zum Medium degradiert. Nur er, der Dichter, setze die Worte in Gang. Für Celan bewegte sich das Gedicht “am Rande seiner selbst”, war eine Gratwanderung zwischen Sprechen und Schweigen.

Dieses Schweigen machte auch vor seinem Tod nicht halt: Bei Celans Beerdigung wurde an seinem Grab kein Wort gesprochen.

Albert Camus bezeichnete den Selbstmord als das einzig ernstzunehmende Problem in der Philosophie. Der Lyriker, Philosoph und Mystiker Paul Celan zerbrach daran: er stürzte sich in die Seine. Er hinterließ Botschaften, die verschlüsselt das zu erreichen suchten, was er zeitlebens nicht auszusprechen vermochte: Als Atheist, nach dem Holocaust zu einer Transzendenz zurückzufinden, seine Würde wiederzuerlangen und trotz des Schmerzes weiterzuleben. Dieses Überschreiten der Grenzen des sinnlich Wahrnehmbaren suchte er in der Sprache.

Celan, der als Paul Antschel 1920 in der Bukowina geboren wurde, suchte die “Königswürde” des Menschen mit den Sprachtheorien und Bildmetaphern der Kabbalisten wiederherzustellen. Er entdeckte für sich den ost-jüdischen Chassidismus (dem seine Mutter nahestand), der in den Wörtern eine göttliche Logik, ja, einen Offenbarungsort sieht. Diese “Königswürde” wurde für Celan zum Hauptthema seines Denkens und Dichtens. Er reihte sich ein zu Schopenhauer und Nietzsche, für die die traumatische Erfahrung einer Intensität ausschlaggebend war, die man nicht selbst “macht”, sondern die einem widerfährt. Es handele sich um eine Philosophie des Nachbebens von Erschütterungen, die mit der Gewalt mystischer Erleuchtung gewirkt haben.

Dieses “Nachbeben von Erschütterungen” quälte Celan zeitlebens. Er wurde durch die Ermordung seiner Mutter durch die Nazis zutiefst verwundet. Seiner Dichtung, in der er dieses Trauma für sich aufzuarbeiten versuchte und in der er Trost suchte, legte er die alte jüdisch-mystische Philosophie seiner Vorväter zu Grunde. Der Lyriker wurde zum Heilsuchenden, zum Lehrenden—ohne je an seinem Ziel anzugelangen.

Der vorliegende Band Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen: Jüdische Mystik in der Dichtung Paul Celans war ursprünglich als ein abgeschlossenes Kapitel in Jean Firges Den Acheron durchquere ich. Einführung in die Lyrik Paul Celans(Stauffenburg Verlag, 1998) geplant gewesen. Es nahm jedoch einen solchen Umfang an, dass Firges der Mystik in Celans Dichtung einen eigenen Band widmete. Hier stellt der Autor das innere mit-sich-kämpfen des Dichters vor, analysiert, erklärt und dokumentiert dessen verzweifelten Versuch, als Nichtgläubiger seine jüdischen Wurzeln zu finden und sich von seiner “Überlebensschuld” zu befreien—ohne Gott von dessen Schuld entlassen zu müssen, den Holocaust geschehen gelassen zu haben.

Ganz besonders nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 und seinem Besuch in Israel 1969 verstärkte sich Celans Neubesinnung auf seine Ursprünge, sie wurde zu einer Wirklichkeitssuche, einer Suche nach Heimat. Firges spricht von Celans “Hebraismen [als] Ausdruck und Gestalt seines pneumatisch verstandenen [vom Geiste Gottes erfülltem] Judentums.” Er erkennt in Paul Celan einen “atheistischen Mystiker, der ein tiefes Eindringen in das ‘Sein des Seienden’ anvisiert.” Firges bezeichnet ihn als “Gerechten im Sinne der jüdischen Mystik”. Celans Lyrik sei ein “stilles Geschrei”, in dem er mit Gott ins Gericht ginge—wie in folgenden Auszügen aus dem Gedicht Tenebrae (Finsternis) deutlich wird:

 

NAH sind wir, Herr,

nahe und greifbar. […]

Bete, Herr,

bete zu uns,

wir sind nah. […]

Zur Tränke gingen wir, Herr.

Es war Blut, es war,

was du vergossen, Herr. […]

 

Für Celan ist der jüdische Gott kein “Vater-Gott”, sondern ein strafender, unerbittlicher Gott, dem sich seine Kinder bis in den Tod zu beugen haben, den er gnadenlos wieder und wieder über sie verhängt. Israel hat sich für seinen Gott zu opfern. Ganz so, als hätte das ‘Auserwählte Volk’ seine auserwählende Position zu bezahlen. Celan beklagte dies und beklagte somit seine eigene Rolle in diesem unausweichlichem, immer wiederkehrendem Schicksal. Aber er glaubte auch, da Israel sich für seinen Gott aufopfere, habe es Anrecht auf Verehrung von Seiten Gottes.

“Lyrik ist Mystik” habe Celan gesagt. Dieser Anspruch bringe ihn, so Firges, in unmittelbare Nähe zur Philosophie und Theologie—auf der ständigen Suche nach dem Absoluten. Denn wieder und wieder stellte Celan die Frage nach den ersten und letzten Dingen. Er schuf in seiner Dichtung Analogien zur zerstörten Welt des Ostjudentums und zu seinem eigenem atheistischen Denken im Schatten des Holocaust. Nur so könne er die Wahrheit finden. Und nur so könne er das kulturelle Gut der ermordeten ostjüdischen Chassiden vor der Vergessenheit bewahren. Mehr noch: Celan wollte sich selbst inmitten der Zerstörung wiederfinden und seiner ermordeten Mutter ein Denkmal setzen.

Und tatsächlich: Firges gibt zu, dass er ohne die chassidische Metaphorik in der Lyrik Celans, die Kabbala vermutlich nie kennengelernt, geschweige denn sich mit ihr befasst hätte. Der Leser, der vielleicht bisher auch keinen Zugang zur jüdischen Mystik gefunden hatte, geht mit Firges auf Entdeckungsreise und erfüllt dabei Celans innerstes Anliegen. Der Kreis schließt sich.

Firges: “Dichten heißt für Celan, Zeugnis geben von der Wahrheit. Dieses Zeugnis geben hat es schwer in einer Welt, in der das ‘hundertzüngige Gerede’ herrscht, in der die Lüge das Geschäft der Welt bestimmt. Celan hatte von seiner frühen Lyrik den Eindruck, dass sie zu viel Worte mache und sich nicht eindeutig genug abhebe von der Vielzüngigkeit und dem falschen Zungenschlag zeitgenössischer Autoren”, schreibt Firges. “Die Kunst läuft Gefahr, die Wahrheit zu verraten. Nur wenn die Kunst der Wahrheit untergeordnet bleibt, kann sie bestehen. Das fordert aber Askese und ‘Beschneidung’. Nur dann ist Lyrik Mystik.”

Vom Osten gestreut, einzubringen im Westen ist kein leichtes Buch. Es setzt voraus, dass sich der Leser von seinen bisherigen philosophischen und religiösen Vorstellungen distanziert, um in eine Welt einzutauchen, der ein Hauch von göttlicher Mystik anhängt auf die eine kleine, auserwählte Gefolgschaft beharrlich baut. Es ist bewundernswert, wie ernsthaft sich Firges mit der schwierigen Mystik der Kabbalisten auseinandergesetzt hat. Sein profundes Wissen zeugt von ehrlichem Respekt gegenüber den jahrtausendalten Überlieferungen. Da für Celan das jüdische Schicksal für das Menschenschicksal überhaupt steht, wird der Leser, egal welcher Religion, direkt angesprochen: Das Fremde wird ihm nahegebracht. Es geht um ihn.

Doch das Fremde, das Celan für sich zu entdecken suchte, blieb ihm letztendlich vorenthalten. Nach seinem Israel-Besuch 1969 schrieb er einem Freund: “Siebzehn Tage Israel. Wo soll ich jetzt hin mit diesem Dort?” Er konnte keinen Platz für sich finden, weder in Israel noch in Paris. Der Heimatlose blieb ohne Heimat. Er arbeitete sich ab, “zackerte” wie er es nannte—bis er schließlich resignierte.

Paul Celans Leser verstehen den Ursprung seiner Wurzeln und seiner Ängste beim Entschlüsseln der Gedichte ein wenig mehr. Firges hilft ihnen dabei. Celan jedoch verzweifelte an seiner nagenden Skepsis. “Wenn der Lauf des Schicksals durch den Zufall regiert wird, dann ist alles der Beliebigkeit anheimgestellt, dann ist unsere Deutung der Geschichte keinen Deut wert”, erklärt Firges. Und der Dichter? Er sei dann nur der “Hofnarr eines imaginären Königs.”


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