Der Unterschied zwischen dem treffenden Wort und dem beinahe treffenden Wort, nach Mark Twain, sei derselbe wie der Unterschied zwischen einem Blitz und einem Glühwürmchen. Genauso gab es Menschen, die sich mit Waffen verteidigten und andere, die mit Worten zu überzeugen versuchten. Menschen, die in unserer Auffassung wie ein Blitz einschlugen, die wir als Helden preisen und deren Erinnerung wir verlangen, und solche, die wie ein Glühwürmchen verglühten—vergessen, schutzlos, unwiderrufbar verloren. Ganz so, als wären sie nie dagewesen. Zu den letzteren gehört Raoul Wallenberg.
Der schwedische Diplomat, der 1944 in Budapest stationiert, im Auftrag des amerikanischen “Jewish Refugee Board” 100.000 ungarischen Juden durch die Ausgabe von diplomatischen “Schutzpässen” das Leben rettete, wurde 1945 von den Sowjets gefangengenommen und ist seither verschollen. Wallenberg wurde vergessen. Das Schweigen breitete sich aus: Wenige wollten das Geheimnis um ihn lüften.
Am 4. August 2012 wäre Raoul Wallenberg 100 Jahre alt geworden—viele glauben fest daran, dass er noch lange nach seiner Entführung am Leben war. Irgendwo in einem Gulag sei er verborgen gewesen, hinter einer Häftlingsnummer, versteckt in einem russischen Gefängnis, oder er war, wie seine ehemalige Mitarbeiterin Agnes Adachi glaubt, “ganz sicher verheiratet mit einer Russin und lebte in einem Sanatorium. Warum sollte er in seine alte Welt zurückkehren, die ihn vergessen hat?”
Worte statt Waffen
Adachi hatte in den 1990 Jahren verzweifelt versucht, aus ihrer kleinen Wohnung in Queens die Erinnerung an Wallenberg für die jüngere Generation aufrechtzuerhalten. Eine ungarische Jüdin, erhielt sie von Wallenberg den lebensrettenden “Schutzpass”, konnte damit sich und ihre Familie vor der Deportation retten und arbeitete in der schwedischen Botschaft in Budapest mit Raoul Wallenberg zusammen. Von sechs Monaten, in denen Wallenberg das Unmögliche versuchte, war sie fünf Monate lang an seiner Seite. Sein Motto—Versöhnung statt Rache, Widerstand durch treffende Worte statt Waffen—blieb ihre Lebensphilosophie.
Raoul Wallenberg wurde Opfer des “Kalten Krieges”. Das “nicht-wissen-wollen”, das krampfhafte Geheimhalten seines Schicksals, war und ist von offizieller Seite—der schwedischen, der russischen sowie der amerikanischen—bis heute die einfachste Lösung geblieben. Die Erklärung der russischen Behörden, Wallenberg sei schon 1947 im Gefängnis an einem Herzinfarkt gestorben, wurde mehrfach widerlegt. Augenzeugen wollen ihn noch bis ins Jahr 1989 gesehen haben. Sein Mitarbeiter Per Anger glaubt fest, dass er noch lange nach seiner Gefangenschaft lebte. “Er muss noch am Leben sein”, meinte auch Raoul Wallenbergs Schwester, Nina Lagergren: “Solange es keine Gegenbeweise gibt, glauben wir daran.”
Mit dem Fall des “Eisernen Vorhanges”, 1989, schien alles wieder möglich. 1991 wurde eine russisch-schwedische Arbeitsgruppe einberufen, die auf Ebene des Außenministeriums Forschungen nach Wallenberg anstellte. Der Abschlussbericht dieser Kommission wurde 2000 veröffentlicht. “Es herrscht vorsichtiger Optimismus”, so Susanne Berger, eine unabhängige Expertin in der Arbeitsgruppe. “Der Fall ist lösbar—nur der absolute Wille hat bis jetzt dazu gefehlt. Es geht darum, zu ergründen, was mit Wallenberg passiert ist, nicht allein um die Frage, ob er noch lebt. Man darf nicht aufhören, Fragen zu stellen. Denn für die offiziellen Seiten ist der Fall Wallenberg ungelöst letztendlich bequemer.”
Aber was war so zwingend, dass das Schicksal eines Mannes wie Wallenberg vertuscht werden musste? Dass selbst die Überlebenden heute lieber schweigen. Dass die Erinnerung an Wallenberg nur von Seiten uneigennütziger, privater Organisationen gefördert wird. Es werden Straßen nach ihm benannt. Schulen. Dagegen sind die involvierten Regierungen darauf aus, Gesicht zu bewahren. Dokumente, die seine Arbeit bezeugen könnten, sind verschwunden. Auf schwedischer Seite—gerne als die Neutrale bezeichnet—hat man versäumt, energisch auf seine Rückkehr zu bestehen; die Sowjets interpretierten seine Mission als einen cleveren Schachzug des CIA. Und die amerikanische Öffentlichkeit fand bald in Oskar Schindler ihren Helden. Das öffentliche Interesse ist komplett eingeschlafen, so Susanne Berger. “Man hat diesen Mann sitzengelassen.”
Man muss die Menschen aufrütteln!
“Ich beschuldige keine Seite”, meint Nina Lagergren. “Es hat keinen Sinn. Aber wir sind sehr enttäuscht worden und furchtbar traurig. Wir hatten große Hoffnungen, aber es ist nichts geschehen.” Und: “Bald ist es zu spät”, so Guy von Dardel, Wallenbergs Halbbruder. “Auch wenn Raoul tot ist, müssen wir die Wahrheit finden.” Von Dardel war 20 Jahre alt, als Wallenberg nach Budapest ging. “Ich erinnere mich an seine Güte, er war ein wunderbarer, guter Mensch, sehr intelligent”. Und Nina Lagergren, die sehr eng mit Wallenberg war, spricht von seiner “enormen Energie, seiner Neugierde, seinem Humor. Er war eine sehr menschliche Person.”
“Man muss die Menschen aufrütteln, die Medien involvieren, man muss den Fall Wallenberg wie eine Aktion des Geheimdienstes angehen!” Peter Z. Malkin schlägt mit der Faust auf den Tisch. Malkin war 1960 als Mitglied des israelischen MOSSAD für die Entführung Adolf Eichmanns in Buenos Aires verantwortlich und war mit ihm tagelang in einem Zimmer eingeschlossen. Peter Malkin ist Maler, und für ihn ist Raoul Wallenberg ein Symbol: Ein Mensch, der “sein Leben gegeben hat für die Menschlichkeit”. Ihm widmete Malkin ein Portrait. Das zweite, das er jemals geschaffen hat (rechts)—das erste war von Eichmann. Die Idee kam von einem Freund, Baruch Tenembaum, dem Gründer der Internationalen Raoul Wallenberg Foundation (IRWF) in New York: ‘Die Hände, die Eichmann gefangen nahmen, zeichnen ein Bild von Wallenberg’.
Zwei Männer, die sich kannten: Wallenberg und Eichmann hatten sich mindestens einmal in Budapest getroffen und über das Schicksal der jüdischen Bevölkerung gestritten.
Mehr zu Raoul Wallenberg können sie in meinem Artikel auf Englisch lesen
The International Raoul Wallenberg Foundation : http://www.raoulwallenberg.net/
The Raoul Wallenberg Legacy of Leadership: http://www.raoulwallenberglegacy.org/
The Raoul Wallenberg Committee of the United States: http://www.raoulwallenberg.org/
The Swedish Raoul Wallenberg Institute: http://rwi.lu.se/where-we-work/sweden/
United States Holocaust memorial Museum: https://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10005211
The History Channel: http://www.history.com/topics/wallenberg-raoul
Jewish Virtual Library: http://www.jewishvirtuallibrary.org/raoul-wallenberg-3
Raoul Wallenberg, A Man Who Made A Difference: https://sweden.se/society/raoul-wallenberg-a-man-who-made-a-difference/
Wer war Raoul Wallenberg?
Raoul Wallenberg wurde 1912 in eine prominente schwedische Familie geboren. Nach dem Abschluss seines Architekturstudiums in Michigan, USA, im Jahre 1935, arbeitete er einige Zeit als Auslandsvertreter einer europäischen Handelsfirma.
1944 nahm er das Angebot des “United States War Refugee Boards” an, die Situation der ungarischen Juden in Budapest zu beobachten, und er reiste als Gesandter des schwedischen Außenministeriums nach Ungarn.
In Budapest konnte Wallenberg durch seine diplomatische Immunität und mit viel Erfindungsgeist und Mut, 100.000 ungarische Juden vor der Deportation in die Konzentrationslager retten. Im von den Nazis besetzten Ungarn stellte Wallenberg innerhalb von sechs Monaten tausende schwedische “Schutzpässen” aus, versteckte Juden in sogenannten “sicheren Häusern” und konnte in einigen Fällen Juden, die schon in die Deportationszüge gepfercht waren, durch diplomatische Anordnung in letzter Minute retten.
1945, nach der Befreiung Ungarns durch die sowjetischen Truppen, wurde Wallenberg, sowie Mitarbeiter der schwedischen Botschaft, in Budapest gefangengenommen. Außer Wallenberg wurden sämtliche Botschaftsangehörige bald wieder freigelassen.
Wallenberg ist seit dem 17. Januar 1945 verschollen. Es wird angenommen, dass er als “amerikanischer Spion” von den Sowjets hingerichtet wurde—obwohl Augenzeugen berichten, ihn noch bis in die frühen achtziger Jahre in diversen Gefängnissen gesichtet zu haben.
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