Das Buch des israelischen Soldaten Liran Ron-Furer, Checkpoint Syndrome, passt in ein Land, in dem alles angesprochen, scharf kritisiert und brüsk zurückgewiesen werden darf. So wie es im Nahen Osten eben nur in Israel möglich ist.
“Gaza ist unser freiliegender Nerv.” Und dies nicht nur nach Meinung von Amira Hass, der in Ramallah lebenden Korrespondentin der israelischen Zeitung Ha’aretz. Noch nie seit Beginn der Zweiten Intifada im Jahr 2000 ist in Israel so heftig und kontrovers über die Besatzungspolitik in den palästinensischen Gebieten diskutiert worden wie eben jetzt.
Auslöser für die Debatte ist das Buch eines israelischen Soldaten namens Liran Ron-Furer. Der heute 26-Jährige verbrachte seinen gesamten dreijährigen Armeedienst in der Shimshon Brigade, die extra für die besetzten Gebiete gegründet wurde. In den Jahren zwischen 1997 und 1999, als es noch relativ ruhig war, leistete Ron-Furer seinen Dienst an einem Kontrollposten im Gaza-Streifen.
In Checkpoint Syndrome [Tismonet Machsom, Gevanim, 2003, ISBN 965-411-615-4. Buchcover im Bild], schildert er seine Erlebnisse, in derbem, chauvinistischem Soldaten-Jargon. In kurzen, fast stenografischen Sätzen erzählt er von seiner fortschreitenden Verrohung, von der Brutalität seiner Kumpel, von Vergewaltigungsvisionen und Verstümmelungsträumen.
“Ich hatte Angst; ihr habt mich verändert; ich war nicht mehr ich, das war jemand anderer. Ich hab’ [dem Palästinenser] kräftig in den Hintern getreten. Alle haben gelacht und gesagt, was ich für ein Schlawiner bin. Ich war glücklich. Wir sind doch eigentlich alle gute Menschen in der Armee; wir sind keine Nazis, denen es gefällt, Arabern weh zu tun. Ich muss mich zusammenreißen. Das Böse in mir darf nicht mehr überhandnehmen.”
Was Ron-Furer wiedergibt, sind Szenen aus dem Alltag zynischer Soldaten und unterwürfiger Palästinenser. Die drückende Hitze, der Dreck an den Kontrollposten, die sexuelle Frustration, die ständige Angst und gleichzeitige lähmende Langeweile machen aus jungen, patriotischen Israelis sadistische, schamlose Nihilisten. Nur manchmal plagen Ron-Furer Gewissensbisse. “Dana”, schreibt er seiner Freundin, “glaubst Du, ich bin ein guter Mensch?”
Er scheint kein guter, aber ein sichtlich beschädigter Mensch zu sein. Das Buch sorgt in Israel für erregte Diskussionen. Sein Buch macht den Leser wütend. Laut fluchend will er es dem Autor um die Ohren hauen; es verärgert, erregt, beschämt, stößt ab. Es erweckt den Eindruck, alle Soldaten handelten so bestialisch.
Viele israelische Medien lehnen Checkpoint Syndrome deshalb ab. Buchhandlungen und Verlage weigern sich, das Buch anzubieten. “Ron-Furer ist ein Kriegsverbrecher”, schnaubt Ra’anan Shaked in der Tageszeitung Yediot Acharonot. “Kauft das Buch nicht! Stellt ihn vor Gericht! Ron-Furer ist ein gemeiner Petzer.” Die Kritik eines anderen Zeitungskommentars geht tiefer: “Wir sind in dieses Land gekommen, um es—und uns—aufzubauen, und nicht, um ein anderes Volk zu zerstören. Unsere Moral ist das Wichtigste, was wir haben, selbst wenn ein anderes Volk uns zwingt, um unser Überleben zu kämpfen.”
Beschreibt Ron-Furer den Normalfall in der israelischen Armee? Wohl kaum; doch ähnliche Ausschreitungen junger Soldaten kommen vor. Ron-Furer verallgemeinert, um so die Öffentlichkeit aufzurütteln. Fast jeder Israeli war oder ist Soldat, und somit ist das Buch ein persönlicher Angriff gegen jeden Einzelnen, eine Herausforderung für eine Volksarmee, die immer noch hohe moralische Ansprüche an sich stellt. Wenn alle Soldaten sind, müssten dann nicht auch alle zur Rechenschaft gezogen werden? Darf man sich reinen Gewissens seiner Verantwortung entziehen?
Checkpoint Syndrome spiegelt ein Phänomen wider, das sich in Israel ausbreitet: Unangenehmes aufzuarbeiten, und sei es noch so niederschmetternd. Das ist ein Buch für eine Gesellschaft, die sich kollektiv den Spiegel vor die Nase hält und den Heldenmythos ihrer bisher unantastbaren Armee beleuchtet, revidiert und zerstört. Eine Gesellschaft, die ihre zionistische Politik und Geschichtsschreibung von der beklemmenden ideologischen Aura zu befreien versucht. Ron-Furers Buch passt in ein Land, in dem alles angesprochen, scharf kritisiert und brüsk zurückgewiesen werden darf. So wie es im Nahen Osten eben nur in Israel möglich ist.
Viele Bücher wurden schon über den Armeedienst geschrieben, etwa “Guter Soldat” [“Chayal Tov”, Zmora-Bitan, 2001] von Boaz Neumann, der dem Leser anvertraut: “Ich hatte Todesangst, in die besetzten Gebiete zu gehen. “Auch Filme über Grenzposten wurden gedreht—wie Yoav Shamirs “Checkpoint” [“Machsomim”, 2003] und Avi Mugrabis “Detail” [2003]. Doch vielen Israelis fällt es immer noch schwer, sich nicht nur als Opfer zu sehen. Denn die Angst bleibt. “Das ist der zentrale Widerspruch des Staates Israel”, schreibt Amira Hass in ihrem Buch “Gaza. Tage und Nächte in einem besetzten Land”[“Lishtot Mehayam Shel Aza”, Hasifriya Hahadasha, 1996]: “Demokratie für die einen, Enteignung für die anderen.”
Auch Boaz Neumann diente gegen Ende seiner Armeezeit im Gaza-Streifen und in der West Bank, mehrere Jahre, bevor Ron-Furer dort sein Unwesen trieb. Neumanns Erlebnisse zeigen eine andere Seite der Armee: professionelle Soldaten, die wissen, was sie tun, und ihre Aufgaben nach genauen Richtlinien erfüllen. Bei Neumann weiß jeder Soldat, was erlaubt ist. Ausschreitungen kommen vor—und werden bestraft. Die Täter sind Außenseiter. Seit Beginn der Zweiten Intifada hat die Armee Hunderte solcher Ausschreitungen untersucht. Im vergangenen Jahr wurden 730 Fälle überprüft—unter ihnen 18 Ausfälle an Kontrollposten. 65 Klagen wurden beim Militärgericht eingereicht.
Soldaten seien anfangs naive, verschreckte Kinder, resümiert Neumann:
” ‘Welcome to Gaza’, begrüßte mich Reservist Bubke. ‘Das erste Mal hat man immer Angst.’ Mein Herz raste. Wir erhielten ein Büchlein mit dem Titel ‹Regeln für den Umgang mit der Zivilbevölkerung im Gaza-Streifen und der West Bank›: ‘Es ist verboten, die Bevölkerung zu belästigen. Es ist verboten, zu fluchen. Es ist verboten, auf die Straße zu spucken. Es ist verboten, Frauen zuzuzwinkern. Es ist verboten, Frauen anzusprechen, es sei denn, es besteht der Verdacht, dass sie eine Gefahr darstellen. Es ist verboten, hinter den Mädchen herzupfeifen.’ “
Neumann, ein Linker, glaubt fest daran, dass, sollten die guten Soldaten den Dienst verweigern, an ihrer Stelle nur noch Sadisten im Gaza-Streifen landen würden:
“Ein Linker nach dem andern weigert sich, dort zu dienen, und am Ende werden die Barbaren in der Armee wie die Verrückten dort hausen. Und warum? Weil sich die Peaceniks die Hände nicht schmutzig machen wollen.”
Für die Armee ist es ein Problem, dass seit Beginn der Zweiten Intifada, im September 2000, viele Israelis den Dienst in den besetzten Gebieten verweigern: allein seit Januar 2002 nicht weniger als 594 Reservisten, unter heftiger Kritik der Öffentlichkeit. Organisationen wie “Ometz Lesarev” [“Mut zur Verweigerung”] und die 2004 gegründete Gruppe “Shovrim Shtika“ [“Das Schweigen Brechen”], unterstützen die Soldaten, die ihren Standpunkt damit begründen, dass die Besetzung dem Staat und der Gesellschaft mehr schade als nütze.
Vielleicht als Antwort darauf hat die israelische Armee vor kurzem einen strikten Verhaltenskodex für den Umgang mit Palästinensern vorgestellt und Erleichterungen an den Kontrollposten angekündigt. Und die 1989 gegründete israelische Menschenrechtsorganisation “B’Tselem” unterhält “Checkpoint Monitoring Teams”, die israelische Soldaten an den 56 Kontrollposten in der West Bank täglich—unbehindert von der Armee—beobachten und Berichte schreiben, Statistiken aufsetzen und Heftchen mit Verhaltensregeln an die Soldaten verteilen (Punkt neun: “Wir sind alle Menschen”).
Liran Ron-Furer hat für diese Entwicklung nur Sarkasmus übrig. “Was soll’s. Sicher ist, dass es jetzt besser ist, ein Jude zu sein”, sagte er kürzlich in einem Interview. Aus seiner Überheblichkeit wird gegen Ende des Buches Resignation:
“Ich kann diese ganze Scheiße nicht mehr ertragen. Wir schlurfen herum wie ein Haufen alter Männer. Ich warte darauf, dass dieser ganze Mist endlich vorbei ist.”
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