“Israel ist das Land, das ich liebe, auch wenn ich es manchmal nicht leiden kann. Es ist die streitfreudigste Gesellschaft der Welt. Jeder weiß alles besser. […] In Israel herrscht eine Atmosphäre intensiver politischer und intellektueller Spannung, was ich ein sehr gutes Klima finde. Gemütlichkeit liegt mir nicht. Da kann ich schwer atmen.” (Amos Oz in Profil, Nov. 22, 2004)
Mehr als 50 Jahre nach der Staatsgründung Israels, ist das Land immer noch nicht richtig aufgenommen worden in die Völkergemeinschaft. Man hat es Israel nie leichtmachen wollen. Denn nur so lässt sich erklären, dass von allen Staaten, die in den Vereinten Nationen vertreten sind, nur eines keinen Sitz im Sicherheitsrat innehat—Israel. Der Grund liegt auf der Hand: An Israel werden immer noch Erwartungen gestellt, die kaum ein anderes Land so zu erfüllen hat, ganz so, als hätte das kleine Volk, das so gelitten hat, als einziges aus der Vergangenheit lernen müssen.
Die moralischen Werte Israels, seine Handlungen, werden analysiert, zerlegt, beurteilt—und meist verurteilt, unter dem Vorwand, Israel sei ein Vorreiter des Guten, habe sich mit allen Opfern von Unterdrückung und Gewalt zu identifizieren. Die Israelis haben diese unzumutbare Prüfung natürlich nicht bestanden—wollten es auch nie—und haben deshalb in den Augen vieler versagt, als sie ihre traditionelle Opferrolle einfach abstreiften und streitsüchtig wurden—mit der Waffe in der Hand. Jetzt scheinen sogar die Juden in der Diaspora mit Israel abrechnen zu wollen.
An dieser Stelle soll nicht Israels Politik analysiert werden, die Bockigkeit seiner Politiker unter die Lupe genommen, und der Friedensprozess akribisch zerlegt werden. Nein, es geht um die Mentalität der israelischen Gesellschaft, darum, das Bild des stolzen Israeli vom Mythos zu befreien—das ihm gerne angehängt und dann zum Verhängnis gemacht wird. Und wer, wenn nicht der israelische Schriftsteller Amos Oz, könnte einen besseren Eindruck geben von dem Land, dem Volk, von seiner eigenen gespaltenen Identität als Jude und Israeli.
Ein kleines, unbequemes Land
Bei einer Podiumsdiskussion im “92nd Street Y” an der Upper East Side in Manhattan, diskutierten die Rabbiner David Woznica und Joseph Telushkin mit dem charismatischen Schriftsteller über eben dieses Thema. Mehr noch: Es ging um Israels jüdische Werte, mit denen sich die Israelis von den amerikanischen Juden unterscheiden, und die die beiden Gesellschaften zu entfremden drohen. Er liebe dieses kleine, unbequeme Land, selbst in Momenten, wo er es “nicht ausstehen kann”, meinte Oz. Und jeder Israeli im Publikum wusste sofort, was er meinte. Nur den beiden Rabbinern und dem zahlreich erscheinenden Publikum war Oz’ Anspielung auf diese innere Ambivalenz keine Selbstverständlichkeit und somit nicht nachvollziehbar. die Kluft zwischen ‘Israeli’ und ‘Jude in der Diaspora’ wurde greifbar.
Das Publikum war teilweise von der brutal offenen Schlagfertigkeit Oz’ überrumpelt, manchmal auch von seinem treffenden Sarkasmus angesteckt. Der redegewandte Kibbutznik verkörperte die Direktheit der Israelis, die legendäre ‘Chuzpeh’ der Sabres. Er lieferte seinen Zuhörern keine leicht verdaulichen Erklärungen über die angespannte politische Lage im Nahen Osten. Das Oxymoron ‘bewaffneter Jude’ oder ‘Juden mit Macht’ umschrieb er zum Schrecken der Rabbiner schonungslos mit einem anderen inneren Widerspruch: dem einer ‘onanierenden Nonne’. “Wir Juden kennen die ‘Macht des Glaubens’, die ‘Macht des Buches’ und die ‘Macht des Zusammenhaltes’. Jedoch die ‘Macht der Macht’ kennen wir erst seit unserer Staatsgründung, zum ersten Mal seit 2000 Jahren. Und ich bin nicht sicher, ob wir darauf vorbereitet sind”.
Israel will jetzt einfach ein normales Land sein und die Rolle der Ziehmutter aller Juden der Welt abstreifen. 50 Jahre Israel sind ein halbes Jahrhundert, in denen sich Juden zu stolzen Israelis entwickeln konnten und gleichzeitig schmerzlich lernen mussten, dass Macht korrumpieren kann. Und dass die Nachsichtigkeit und Sympathie der Stärkeren gegenüber dem Geschundenen mit der Zeit nachlässt. Die Israelis schafften das schier Unmögliche, eine für tot befundene Sprache wieder aufleben zu lassen und konnten endlich eine Gesellschaft aufbauen, die so fehlbar ist, so normal zu sein scheint, wie es die zionistischen Gründungsväter nur hoffen konnten, damals als sie gelobten, Israel werde erst dann zu einem normalen Land, wenn es die erste Prostituierte hervorbringe, wenn der erste Mord verübt werde. “Lasst uns doch nicht vergessen, dass Israel ein Traum ist, der wahr wurde, und als solcher muss er fehlbar sein”, meint Amos Oz. “Jeder Traum—ob es um sexuelle Fantasien geht oder um den Wunsch, einen Staat aufzubauen—haben Eines gemeinsam: das bittere Erwachen. Glaubt also nicht alles, was geträumt wurde!”
Ein Staat kann nicht jüdisch sein
Die Abrechnung mit den allzu hohen Erwartungen an das Land hörte damit für Amos Oz nicht auf: Israel sei kein ‘jüdischer Staat’ wie immer gerne behauptet werde, allen Erwartungen zum Trotz. “Ein Staat kann nicht jüdisch sein”, meint Amos Oz. “Israel ist demnach kein ‘jüdischer Staat’, sondern ein ‘Staat der Juden’. Und gehört allen seinen Bewohnern—Juden, Christen, Muslimen. Dieses Denken haben sich die Israelis einverleiben müssen—und es ist vielen amerikanischen Juden noch fremd.
Diese tendieren dazu, Israelis vorlaut und eingebildet zu finden, die immer das letzte Wort haben wollen und unaufhörlich glauben, Kontroversen schüren zu müssen. Oz ist über dieses Phänomen des israelischen Mephisto nicht erstaunt. “Wissen Sie, Israel hat sechs Millionen Einwohner, das heißt also sechs Millionen Premierminister, sechs Millionen, die sich für den Messias halten. Niemand hört dem anderen zu. Jeder hält Reden, belehrt, schimpft und schreit. Ich mag das”, schmunzelt Oz, “und ich glaube, das ist es, was Israel so jüdisch macht. Endlich bin ich frei, meine Kämpfe mit anderen Juden auszufechten—so laut ich will und ‘to hell with the neighbors’! Somit verkörpere Israel das Konzept des Judentums, das den kontinuierlichen Dialog, das ständige Hinterfragen, auch das Theatralische propagiert. Diese Aversion gegen eine Hierarchie, gegen eine einzige Wahrheit, ist im Grunde sehr demokratisch, ja, fast schon anarchistisch.
Ein ‘nicht-synagogaler’ Jude
Auch ein weiteres Argument von Seiten amerikanischer Juden gegen die israelische Gesellschaft lässt Amos Oz nicht zu. Man könne den Israelis nicht vorwerfen, sie seien “zu säkular” und es sei ihnen gleichgültig, dass die Synagogen, die sie nie besuchen, ausschließlich orthodox sind und sie sich deshalb nicht verbünden wollen mit dem Reformjudentum in den USA, gegen das Monopol der Orthodoxie in Israel. “Ein Israeli ist ein unabhängiger, ‘nicht-synagogaler’, Jude”, so Oz. Doch selbst der säkularste Israeli ist täglich mehr Jiddischkeit ausgesetzt, als es ein orthodoxer amerikanischer Jude—geschweige denn ein Reformer—je sein wird. “Denn in Israel”, argumentiert Oz, “ist die hebräische Sprache eine stetige Erinnerung an die eigenen jüdischen Wurzeln. Das ist eine tägliche Erfahrung. Die jüdische Identität kann nicht nur in der jüdischen Tradition, in Ritualen, Symbolen gesucht werden, oder in Bagels mit Lachs”. Sondern nur in der Sprache der Torah.
“Israel hat das fast Unmögliche erreicht”, resümiert Amos Oz über die ersten 50 Jahre des Staates. “Es ist noch im Aufbau, immer noch nicht perfekt. Das israelische Drama ist faszinierend und wahrscheinlich die aufregendste Show, die angeboten wird. Wenn nicht das beste, so doch das erstaunlichste Schauspiel.”
Oz wendet sich an sein Publikum, das erwartungsvoll an seinen Worten hängt: “Wenn Ihr nicht zufrieden seid mit dem, was auf Israels Bühne geschieht, so seid Ihr mehr als willkommen, selbst auf diese Bühne zu klettern und den Israelis die Show zu stehlen—in der Politik, in der Kultur, in Sachen Moral. So ist nun mal der Staat Israel: Kein Lustspiel— aber ein großartiges Melodrama.”
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